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Interview|17.05.2018

Wiebke Strohmeyer im Interview

Interview von Frau Angelina Sophie Stückemann (A.S.), duale Studentin der FhöV NRW und Wiebke Strohmeyer (W.S.), Mitglied des Schulleitungsteams und Sonderpädagogin an der Matthias-Claudius-Grundschule in Bochum:

A.S.: „Guten Morgen Frau Strohmeyer, vielen Dank, dass Sie mir einige Fragen beantworten möchten. Zuerst, glauben Sie, dass Inklusion für alle Schüler mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf geeignet ist?“

W.S.:  „Also grundsätzlich kann man sicher jedes Kind inkludieren, aber es hängt ganz deutlich von den personellen und räumlichen Voraussetzungen ab. Jetzt auf unsere Schule bezogen: Wir hätten hier zurzeit nicht die pflegerische Ausstattung, um ein Kind, was schwerstbehindert oder schwerstmehrfachbehindert ist, entsprechend zu pflegen. Deswegen müssen wir da sehr genau ausloten, welche Kinder wir aufnehmen können und welche nicht. Aber es gibt bei uns kein Ausschlusskriterium, dass man z.B. sagt, geistig behinderte oder autistische Kinder werden grundsätzlich nicht aufgenommen.“

A.S.: „Welche Arten von Behinderungen und welche Schweregrade werden an Ihrer Schule unterrichtet?“

W.S.:  „Alle Behinderungen werden an dieser Schule unterrichtet. Grundsätzlich werden auch Schüler mit Sinnesbehinderungen beispielsweise im Bereich Hören und Kommunikation oder Sehen bis hin zur Blindheit an unserer Schule beschult, wobei wir da auf die Unterstützung der jeweiligen Förderschule angewiesen sind. Wir bekommen von der Schule für Hören und Kommunikation auch Beratungsbesuche und werden in technischer Hinsicht beraten. Dies gilt für die Sehbehindertenschule natürlich auch. Schüler mit einer solchen Sinnesbehinderung waren bisher aber Einzelfälle.“

A.S.: „Wie sieht das Bewerbungsverfahren für behinderte Schüler aus, die an Ihrer Schule aufgenommen werden möchten?“

W.S.: „Die Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf nehmen, wie alle anderen Kinder auch, am Einschulungsverfahren teil. Dabei handelt es sich um ein Gruppenspiel, welches uns dann auch in einem gewissen Maße Aufschluss darüber gibt, wie sich das Kind in einer gemischten Gruppe bewegt und verhält.“

A.S.: „Ist es für die anderen Kinder normal, dass auch behinderte Schüler in ihrer Klasse sind? Inwieweit ist die Aufklärung über das Thema Behinderung für sie notwendig?“

W.S.: „Also wir erleben eigentlich, dass die Kinder einander sehr unvoreingenommen begegnen. Es werden sachliche Fragen gestellt, beispielsweise „Warum hat er so komische Augen?“. Dies ist jedoch in keiner Weise abfällig gemeint, die Kinder möchten nur verstehen, warum das Kind anders aussieht. Und man muss ganz ehrlich sagen, wir haben mit Kindern mit Down-Syndrom die wenigsten Schwierigkeiten bei der Inklusion. Die größten Hürden haben Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten. Dass einem Kind, das aussieht wie ich, besondere Freiräume zugestanden werden, das ist für andere Kinder schwer einzusehen. An dieser Stelle ist ein Gespräch notwendig, auch mal ein Klassengespräch.“

A.S.: „Wie stehen die Eltern ihrer Schüler zum Thema Inklusion? Gibt es Eltern, die Bedenken äußern?“

W.S.: „Wir sind eine private staatlich anerkannte Ersatzschule, das Heißt wir sind eine Angebotsschule, auf der man sein Kind anmelden muss. Wer hier sein Kind anmeldet weiß, dass wir im Bereich von Integration und Inklusion schon lange tätig sind. Und die Kinder erleben Inklusion schon ganz oft im Kindergarten. Viel mehr als noch vor 10 bis 15 Jahren. Einen Matthias-Claudius-Kindergarten gibt es zwar nicht, aber es gibt in unmittelbarer Nähe zwei integrative Kindergärten, die von der Diakonie geführt werden.“

A.S.: „Sind an der Matthias-Claudius-Grundschule die „normalen“ Lehrer auch in irgendeiner Weise im Bereich der Sonderpädagogik ausgebildet worden?“

W.S.: „Wir haben grundsätzlich zwei Professionen, den Grundschullehrer und den Sonderpädagogen, in jeder Klasse und dies ist auch bewusst so gewollt. Ich würde sagen, man lernt wirklich voneinander. Also im Rahmen des Team-Teaching und in den gemeinsamen Teamgesprächen lernt einer vom anderen. Beispielsweise gestaltet auch der Sonderpädagoge den Unterricht für die gesamte Klasse. Bei uns ist es eben nicht so, dass der Sonderpädagoge nur für ein paar Stunden in der Klasse ist und es ist absolut gang und gäbe, dass der Sonderpädagoge auch ein Fach unterrichtet oder mehrere Fächer. Bei mir ist es zum Beispiel der Sachunterricht, mit dem ich ja auch in der ganzen Klasse unterwegs bin. Wir differenzieren da eher in den Fächern Mathematik und Deutsch, da wir sagen, dass da die Schere schneller auseinander geht. Gerade bei Kindern mit Lernbeeinträchtigung. Da ist es folglich so, dass der Grundschullehrer die Federführung in den Fächern hat und der Sonderpädagoge spezielle Förderung durchführt oder auch bei lernbehinderten Kindern in Absprache mit dem Grundschullehrer binnendifferenziert unterrichtet. „

A.S.: „Sind alle Sonderpädagogen in allen Förderschwerpunkten ausgebildet (z.B. durch das Erlernen der Gebärdensprache oder der Brailleschrift)?“

W.S.: „Nein. Sonderpädagogen studieren zwei Fachrichtungen. Wir haben eine Kollegin, die in der Sehbehindertenpädagogik ausgebildet ist und ansonsten sind wir bei den Sinnesbehinderungen wirklich angewiesen auf die Unterstützung der Förderschulen für Hören und Kommunikation und Blinde. Diese Förderschulen haben Frühförderstellen, die die Kinder sehr früh kennen lernen und auch sehen, ob dieses Kind beispielsweise eher für die Hörgeschädigtenschule geeignet oder an der Matthias-Claudius-Grundschule gut untergebracht wäre. Es ist beispielsweise so, dass die Grundschule und die Gesamtschule von einem Lehrer der Schule für Sehen in Dortmund mit betreut werden. Er kommt also und schult Schulintegrationskräfte in Brailleschrift oder kümmert sich um Tafelbildkameras, welche das Tafelbild vergrößern. Ich selbst hatte ein Kind in meiner Klasse, welches eine solche Tafelbildkamera benötigt hat. Inzwischen ist es auf der Gesamtschule und kommt dort prima klar. Es gibt ein gutes Unterstützungssystem, das Landesinstitut für Blinde in Sost. Dort kann man die verwendeten Schulbücher in Brailleschrift bestellen.“

A.S.: „Gibt es an Ihrer Schule auch Fächer wie Kochen oder Einkaufen?“

W.S.: „Wir bieten an der Schule eine lebenspraktische Orientierung an. Das ist ein Fach, welches es an der Schule für geistig Behinderte gibt. Für die anderen ist es im Fächerkanon nicht vorgesehen.Wir fangen aber in der Regel schon in den ersten Klassen damit an. Oft ist es so, dass wir inklusive Kochgruppen haben, dass man also zum Beispiel sagt, die Gruppe der geistig behinderten Schüler geht einmal in der Woche zum Kochen und zwei andere Kinder aus der Klasse gehen mit. Dann bereitet man eine Frühstücksüberraschung für die ganze Klasse vor. Das Einkaufen ist Teil des Mathematikunterrichtes für geistig behinderte Schüler, sie sollen also im unmittelbaren Vollzug den Umgang mit Geld kennen lernen. Das findet auch kontinuierlich während der ganzen Grundschulzeit statt. Wenn das Thema Geld Teil des normalen Grundschulstoffes ist, klinken sich die anderen Grundschüler ein und machen mit beim Einkaufsspiel. Aber bei den Regelgrundschülern geht es schnell ins Rechnen mit Geld, was Kinder mit einer geistigen Behinderung nicht können.“

A.S.: „Bietet die Matthias-Claudius-Schule therapeutisches Angebot an?“

W.S.: „Ja, inzwischen ist es so, dass 95 % unserer Schüler den offenen Ganztag besuchen. Wir haben Vertragspraxen für Ergotherapie, Krankengymnastik und Logopädie, welche hier an die Schule kommen und während der OGS-Zeit Kinder mit Förderbedarf therapieren. Dies ist für die Eltern eine große Erleichterung.“

A.S.: „Sehen Sie Probleme bei der Umsetzung von Inklusion?“

W.S.: „Ja, unbedingt. Der Staat, also die Landesregierung von NRW, bietet nicht die notwendige Unterstützung, vor allem in personeller Hinsicht. Hinzu kommt, dass wir für Kinder mit dem Förderbedarf Lernen überhaupt erst ab dem dritten Schuljahr ein Verfahren zur Feststellung des Förderbedarfs durchführen dürfen. Das bedeutet, dass diese Kinder in den ersten beiden Schuljahren nur präventiv gefördert werden können und nicht die eigentlich notwendige Ressource an Lehrerstunden zur Verfügung steht.“

A.S.: „Wie sieht das Benotungssystem der Matthias-Claudius-Grundschule aus?“

W.S.: „Die Kinder bekommen erst ab der vierten Klasse Noten. Bei Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf sieht es jedoch ein wenig anders aus. Geistig behinderte Schüler erhalten ein Berichtszeugnis. Wenn ein Kind zielgleich unterrichtet wird, wenn es sich zum Beispiel um eine rein körperliche Behinderung handelt, wird es nach den Grundsätzen der Grundschule auch normal benotet.“

A.S.: „ Von wem werden die Kosten für die Hilfsmittel der Schüler übernommen?“

W.S.: „Von den Krankenkassen.“

A.S.: „Wie finanziert sich die Schule? Erhält sie besondere Gelder vom Land?“

W.S.: „85% werden vom Land refinanziert und die restlichen Kosten, was vor allem die Personalkosten für die Doppelbesetzung sind, die muss der Träger aufbrinden. Die Eltern zahlen ein Schulgeld von 150 € im Monat.“

A.S.: „Vielen Dank für das Interview!“